Endlich angekommen: Waltraud Mittichs Roman „Ein Russe aus Kiew“

Bereits bevor Annie Ernaux der Literaturnobelpreis verliehen wurde, dachte ich bei der Lektüre von Waltraud Mittichs Buch Ein Russe aus Kiew immer wieder an die französische Schriftstellerin. In ihrem Oeuvre umkreist sie ja ihr eigenes Leben, nimmt dies zum Ausgangspunkt um zu verstehen, im soziologischen oder besser im soziografischen Sinn. Indem sie sich selbst, ihr Leben zum Objekt der Beobachtung und literarischen Beschreibung macht, entwischt sie (als Frau) dem Objektstatus und dreht an den Hebeln der Klassenzugehörigkeit. Sie versteht ihr Werk insgesamt als „kollektive Autobiographie“, die weit über das individuelle Erleben und Empfinden hinausgeht, gerade deshalb, weil es ganz nahe an diesem bleibt. In jeweils einem Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Eltern, in Eine Frau jene der Mutter; Der Platz setzt anlässlich des Todes des Vaters mit einer Rückschau auf dessen Herkunft und Milieu ein.

Auch Waltraud Mittichs Werk ist in hohem Maße von biographischen Linien und Fragmenten durchzogen, wobei die einzelnen Bücher, Romane sowie Essays, viel mehr Suchbewegungen darstellen, in denen gesicherte Fakten nur in Ansätzen eine Rolle spielen, zum einen, weil sie schlicht und einfach nicht vorhanden sind, zum anderen, weil Mittichs Schreiben davon lebt, Reales und Fingiertes, Imagination und Gedächtnis, Erzählung und Reflexion in eins fallen zu lassen – und mit diesem Verfahren, das die Autorin von Buch zu Buch verfeinert, ebenfalls Individuelles und Kollektives gemeinsam zu erfassen vermag. In Ein Russe aus Kiew führt Mittich diese Tradition des eigenen Schreibens fort, treibt sie voran, ja, man könnte sogar behaupten: Sie kommt endlich ganz darin an.

Diese Suchbewegung, die um Identität und Herkunft kreist, nimmt ihren Ausgang von einem Mangel, von einer Mitte, die es nicht gibt, und erzählt daher immer dezentral. Es ist der Mangel, der sich aus dem Unwissen über eine Hälfte der eigenen Herkunft speist, nämlich jener des Vaters. Schreibt sich Mittich im ersten Kapitel ihres Romans Abschied von der Serenissima die Mutter herbei, die sich totgeschwiegen hat ihr Leben lang, so liegt nun mit Ein Russe aus Kiew das Vaterbuch vor. Doch wie von einem Vater schreiben, von dem man gerade mal den Namen weiß – und ist dieser verbürgt? Die Brüchigkeit des Tatsachenbodens, dieses wiederkehrende Thema in Mittichs Werken (Du bist immer auch das Gerede über dich), ist hier poetologisches Prinzip, das Schreiben ist das Medium gegen die Fallbewegung und Bodenlosigkeit des Unwissens. Die ungreifbare, unbekannte, doch für die Ich-Erzählerin so wichtige Vaterfigur geisterte bereits phantomgleich durch mehrere Werke Mittichs, so in der Vatersuche der Protagonistin Dolly Meyer in berühren sie jedes, aber auch indirekt in den zahlreichen intertextuellen Bezügen zu Schriftstellern aus dem galizischen bzw. ukrainischen Raum.

Nun jedoch offenbart sich dieser Mangel, diese Wunde in all seiner Tragweite, wird unverzagt, mutig und bis zu seinen Wurzeln hin schreibend angegangen.

Die Abwesenheit wird durch die gewählte Form unterstrichen: Es ist ein Brief, in dem sich das schreibende Ich immer wieder an den Vater wendet, ihn allein durch die Nennung, durch das häufige Aussprechen des Wortes „Vater“ herbeiruft und evoziert. Gleichzeitig ist es ein Bericht, ein Bericht an diesen Vater, den die Schreibende damit konfrontiert, was es für sie hieß und heißt, ohne ihn gewesen zu sein und noch zu sein, und immer zu sein. Es ist auch eine Art Bilanz, in der Bezüge zu zahlreichen anderen (eigenen) Werken hergestellt werden und getroffene Lebensentscheidungen abgewogen werden. Und da kommt vieles zusammen, das erzählt werden will, mitgeteilt werden muss, und das kommt überbordend daher, wie Wasser, das sich nach einem Dammbruch zahllose Wege durch die Landschaft bahnt, wild, ungezügelt, überschießend: wie sich der Ich-Erzählerin die Liebe zur Ukraine eröffnet, zu deren Literatur sie eine tiefe Beziehung hegt und die sie nach mehreren Anläufen bereist und zu der bedingungs- und kompromisslos steht, als die militärischen Übergriffe Russlands auf den Donbass losgehen. Wie sie sich den eigenen Vorurteilen über „das Slawische“ stellt, wenn sie vermeint, es in sich zu entdecken. Wie sie dem Vater von seinen Enkelinnen erzählt, von Hannah und Alma, und so einen Bogen von der Herkunft zur Hinkunft spannt. Wie die Reflexionen über die ukrainische Herkunft ausstrahlen auf ihre Reflexionen über das Land, in dem sie lebt, vor allem, was die große Utopie betrifft, die im Zentrum von Mittichs Werk steht: nämlich jener der Mehrsprachigkeit, die weit über die regulierte Zweisprachigkeit hinausgeht, sondern eine innere Haltung der Offenheit und Empathie ist, die Zentrum und Peripherie in einem zu sein vermag und die so als Gegenpol zu den patriarchalen Logiken (auch des Erzählens) werden. Und ja, vielleicht ist es gerade diese verlorene, diese nie erlebte Herkunft, die antreibt, sich immer wieder neu zu denken und neu zu entwerfen (wie es die Frauenfiguren in Mittichs Werken tun) oder (und das tut Mittich) bereits vergangene Leben weiter zu imaginieren, Zeiten beinahe alchemistisch zu mixen (wie in ihrem Buch Micòl). Und so scheint mir genau diese so sehnsüchtig herbei ersehnte und herbei geschriebene Herkunft Altes immer wieder über Bord zu werfen, um Platz zu machen für Neues, Ungeahntes, das bei Mittich in den Händen der Frauen liegt, bei Moia, Marie, Dolly und wie sie heißen. Und bei Frauen wie der Ich-Erzählerin in Mittichs Ein Russe aus Kiew, die als alte Frau noch eine im Grunde verschämte Tochter-Liebeserklärung an den nie gekannten Vater verfasst, dabei souverän und verletzlich zugleich alles wagt, um frei zu sein für die Zukunft, denn es ist nie zu spät, dass diese beginnen kann.

Erwähnte Bücher:

Waltraud Mittich: berühren sie jedes. Skarabaeus Verlag 2004.

Waltraud Mittich: Du bist immer auch das Gerede über dich. Annäherung an einen Widerständler. Edition Raetia 2012

Waltraud Mittich: Abschied von der Serenissima. Roman. Edition Laurin 2014

Waltraud Mittich: Micòl. Roman. Edition Laurin 2016

Annie Ernaux: Eine Frau. Suhrkamp Verlag 2019

Annie Ernaux: Der Platz. Suhrkamp Verlag 2019

Beitragsbild: Facebook-Seite von Waltraud Mittich

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