Venedig, Castello, im März

Es ist eine schöne Fügung, dass mein Buchhändler, als ich ihm erzähle, dass wir für 10 Tage nach Venedig fahren und in einer Wohnung in der Nähe der Via Garibaldi wohnen werden, einen Roman zur Hand hat, der genau in diesem Viertel, im Sestiere Castello angesiedelt ist: „Garten der Engel“ von David Hewson, in der deutschen Übersetzung von Birgit Salzmann vor kurzem im Folio Verlag erschienen. Er spielt in einer Rückblende in der Zeit der Okkupation Venedigs durch die Nazis und der Verfolgung der Juden und Jüdinnen dieser Stadt. Castello, ein kommunistisch geprägtes ArbeiterInnenviertel, spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Roman erzählt die Geschichte von Paolo, dem jungen Inhaber einer Weberei, der, soeben Waise geworden, da die Eltern bei einem Bombenangriff auf Verona ums Leben kamen, einem Geschwisterpaar, das auf der Flucht ist, Unterschlupf gewährt. Und so komme ich während meines Aufenthalts in der Serenissima an den Schauplätzen des Romans vorbei: am Gemüseschiff, das damals sicher nicht so reich bestückt war wie heute, am Denkmal für die Partisaninnen, relativ versteckt im Park zwischen den Giardini della Biennale – das einzige Denkmal, das ich kenne, das ausschließlich der Partisaninnen gedenkt. Andere wiederum suche ich bewusst wie den Giardino delle Vergini, den Garten der Jungfrauen, der dem Autor Inspirationsquelle für seinen „Garten der Engel“ war. Oder ich spaziere die Via Garibaldi bis an ihr Ende hinauf, vorbei am völlig desolaten Areal der Chiesa Sant’Anna, auf dessen Umzäunung ich erstmals das großflächige Stoffbanner mit der Aufschrift „Salviamo San Piero e Sant’Anna“ sehe. Der Aufruf zur Rettung der zwei Kirchen ist immer öfter auf Wänden zu lesen oder hängt von Balkonen herab, je näher ich San Pietro in Castello komme, einer Insel, die als eine der ersten Besiedlungsgebiete Venedigs gilt und auf die zwei Brücken führen. Nachdem ich den Ponte di Quintavale überquert habe, eröffnet sich mir ein großzügiger Platz, auf dem es gerade grünt und sprießt, ebenso wie die Platanen, die als Allee angelegt am ziemlich schiefen Campanile vorbei zum imposanten Tor der großen Kirche im Stile Palladios sowie auf das angeschlossene Kloster führt. Es ist sehr ruhig hier, der Canale di San Pietro weitet sich bereits, bevor er in die Lagune mündet. Eine junge Frau sitzt auf einer Bank und strickt, auf einer weiteren sitzt eine Familie, Russen, und der Mann erzählt gerade, dass dieses hier sein Lieblingsviertel sei. Andere führen ihren Hund spazieren (mir ist noch nie so sehr wie dieses Mal aufgefallen, wie viele Hunde es in Venedig gibt). Die Basilika von San Pietro oder San Piero, wie die VenezianerInnen sagen, war Jahrhunderte lang das Zentrum des religiösen Lebens Venedigs und seiner Dogen. Zahlreiche Mitglieder bedeutender venezianischer Familien wie der Pizzamano sind hier begraben –, bevor San Marco von Napoleon aufgrund der zentralen Lage zum geistigen und administrativen Mittelpunkt der Serenissima bestimmt wurde. Das Kloster wurde, wie viele andere, während der Okkupation Venedigs durch Napoleon aufgelassen; an eines führt das Vaporetto auf der Fahrt nach Burano vorbei; es befand sich auf der Insel Madonna del Monte und ist als von Wasser umspülte Ruine romantisch anmutendes Erinnerungszeichen eines barbarischen Vorgehens. Auch das Kloster von San Pietro ist dem Verfall preisgegeben, wurde allerdings, wie mir die Ticketverkäuferin an der Kassa in der Kirche erzählt, von Investoren aufgekauft und soll, ebenso wie das Areal von Sant’Anna, in eine „struttura turistica“ umgewandelt werden. Dagegen wehrt sich eine BürgerInneninitiative, die sich ein Beispiel am Engagement weiterer VenezianerInnen für die dem Lido vorgelagerten Insel Poveglia nimmt. Hier konnte ein Verkauf der Insel an einen privaten Investor verhindert werden. Es muss wirklich unerträglich sein, denke ich mir, als ich beim Rückweg auf einer Parkbank am Viale Vittorio Veneto und in der Ferne die Inseln San Clemente und San Spirito zu erkennen glaube: Auf beiden befinden sich Luxusressorts, sie sind für die Öffentlichkeit, für die venezianische Bevölkerung vor allem aber auch für alle andere, bis auf weiteres verloren; Betreten verboten, außer mit Privatbooten, denn keine öffentliche Linie hat eine Haltestelle dort.

Es ist im Grunde der Tourismus eine Belagerung, denke ich mir, als ich von der noch relativ ruhigen Riva dei Sette Martiri kommend letztendlich auf der Riva degli Schiavoni lande. Hier ist das Durchkommen zwischen den Menschenmengen sehr mühsam, obwohl keine Ferienzeit ist. Die Vaporetti sind gefüllt, die Ausflugsschiffe legen bereits an.

Jetzt ist es wieder soweit, sagte gestern eine Verkäuferin im Supermarkt resigniert zu einem anderen Venezianer. Ja, fügte dieser hinzu, und alle so ungebildet. Ich konnte nicht an mich halten und erwiderte auf Italienisch, es gäbe doch auch einige gebildete Touristen, bitte, das solle man nicht vergessen. Die beiden starrten mich völlig entgeistert an, hatten sicher nicht daran gedacht, verstanden zu werden. Diese doppelte Identität ist es, die mir immer wieder zu schaffen macht. Zu verstehen, wo man nicht davon ausgeht, dass ich verstehen könnte, und mitgemeint zu sein, wo ich mich nicht zugehörig fühle. Aber bin ich, trotz all dem, trotz des Umstands, dass mir die Entwicklung der Stadt nicht egal ist und ich mich informiere, trotz der Tatsache, dass ich sehe, wie sehr die Lagune unter dem Klimawandel und der Trockenheit leidet (die barene sind jetzt schon braun), bin ich nicht trotz all meines Wissensdursts über die Stadt, trotz der zahlreichen Aufenthalte in ihren verschiedenen Vierteln auch eine genauso ungern gesehene, ja verhasste Touristin wie alle anderen und trage zum allzu deutlich erkennbaren und schmerzlich nachempfindbaren Overtourism der Stadt mit? Wie aus diesem Dilemma herauskommen? Eine Frage, die auch an die Stadt, an ihre Verwalter und ihre kreativen Köpfe zu stellen wäre: Welche Ideen könnte man entwickeln, um es Gästen zu ermöglichen, die Stadt zu besuchen, ohne sie dabei zu zerstören? Ein Großteil der Bevölkerung lebt vom Tourismus, und die Anzahl der Menschen, die in Venedig leben, nimmt ab, aufgrund von Abwanderung aber auch wegen der Überalterung der Bevölkerung. Allerdings ist dies, das sollte man nicht vergessen, ein Phänomen, das in ganz Italien geschieht: die jungen Menschen gehen ins Ausland, da sie in ihrem Geburtsland kein Weiterkommen für sich sehen. Doch zurück zu Venedig: die Stadt nicht mehr besuchen? Diesen Ort, an dem jedes Mosaik, jede Brücke Geschichte atmet und der sich gleichzeitig im Rhythmus der Gezeiten ständig erneuert? Der in der drei Jahre währenden Pandemie einer meiner Sehnsuchtsorte war, vor allem, als die Delphine bis in die Kanäle vorgedrungen waren? Venedig ist einzigartig. Die Harmonie der Palazzi, trotz ihres stetigen Verfalls, die Absenz von Autos, das Wasser, breite Kanäle, Rinnsale, die offene Lagune. Alle Menschen sind gleichberechtigt unterwegs, nämlich zu Fuß. Venedig „gehört“ niemandem. Sie ist Welt.Kultur und muss demzufolge von Allen, die sich dort aufhalten, sei es ein Leben lang oder nur einige Stunden, geschützt werden. Gerade von jenen, die kurz in sie einfallen, Selfies am Rialto, am Markusplatz und am Ufer machen, um dann wieder weiterzuziehen. Das müssten die Zuständigen vermitteln, weltweit, in einer einzigartigen Kampagne, die der Serenissima angemessen ist. Für Venedig braucht es ein tiefes Verständnis, und auch, wenn es einem nicht angesehen wird, ist es diese Empathie für die Stadt und ihre BewohnerInnen, die, gemeinsam mit der Lektüre von Büchern wie „Garten der Engel“, stärker empfinden und wissen lässt, warum man diese Stadt liebt.

Offenen Auges durch die Stadt gehen. Auf den Vaporetti die Schiebetüren schließen, damit die alten Menschen in den ersten Sitzreihen nicht allzu sehr kalt bekommen (und diese Sitze sind immer voll). Im italienischen Restaurant mit Lilli, der chinesischen Kellnerin, vorbeischauen, die sich unbändig freut, dass man sich an ihren Namen erinnert und einen küsst, als wäre man ein Verwandter. Sich freuen, wenn man in einer der wenig verbliebenen Buchbindereien Bleistifte findet, die mit venezianischem Papier umhüllt sind. Das tiefe Ressentiment in den VenezianerInnen sehen, wenn zum Beispiel im Haus, wo man wohnt, auf jedem Stockwerk mindestens zwei handgeschriebene Zettel mit irgendwelchen Verboten, Aufforderungen oder Hinweisen an die kurzzeitigen Mitbewohner in den Ferienwohnungen den Wänden hängen. Mit den ständigen Übergriffigkeiten durch fremde Menschen zu leben (und sei es auch nur, dass die zwei vor dir abrupt auf einer Brücke stehenbleiben, um ein Selfie zu machen, und du gegen sie stößt), das ist eine Kunst, in der sich die Venezianerinnen und Venezianer täglich üben müssen und an der viele von uns scheitern würden. Die Stadt stemmt Unbändiges: Von der Armee an Müllmännern, die täglich durch die Stadt flanieren – könnte man fast sagen -, um sie sauberzuhalten. Die Handwerker, die Kassierer, die Postbotinnen, die Paketzusteller, die Bootsführerinnen, die Sanitäterinnen. Alles ist umständlicher hier und wird doch getan. Vergessen wir das nicht, wenn wir in dieser Stadt sind, und verhalten wir uns einfach dementsprechend. Das dürfte doch nicht so schwer sein.

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