Ganz und gar nicht (un)heimlich. Olga Tokarczuks Roman „Empusion“

Kampa Verlag 2023

„Empusion“ ist der erste Roman, den Tokarczuk nach dem Nobelpreis, den sie 2019 rückwirkend für 2018 entgegennehmen durfte, veröffentlicht. Tokarczuk ist im eigenen Land eine hoch geachtete Autorin, die mehrfach mit dem Nike-Preis, dem bedeutendsten polnischen Literaturpreis, ausgezeichnet wurde. Aber auch international wurde ihr Werk mit vielfachen Auszeichnungen bedacht, so mit dem International Man Booker Price oder mit dem Brücke Berlin Literatur- und Übersetzerpreis.

Der Literatur seien die Merkmale des Experiments und der Transgression wesenhaft eingeschrieben, auf jeden Fall aber das Spiel, so schreibt sie in ihrer Vorlesung zur Verleihung des Nobel-Preises für Literatur mit dem Titel „Der liebevolle Erzähler“. Und so finden wir neben der überbordenden Fabulierfreude und Imaginationsstärke die Vorliebe für abgelegene, an Grenzen gelegenen Orte und Gebiete ebenso wie ihre Vorliebe für das Überschreiten und das gekonnte Mixen von Genres. War es in „Der Gesang der Fledermäuse“ das Spiel mit der Gattung des Kriminalromans, so sind es in „Empusion“ Elemente des Schauerromans; das Adjektiv, das sie diesem voranstellt, „natur(un)heilkundlich“, erhellt sich im Lauf der Lektüre.

Schön schaurig geht es jedenfalls zu in der niederschlesischen Luftkuranstalt Görbersdorf im Herbst 1913, kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Vom Arzt Hermann Brehmer gegründet, war das Sanatorium auch aufgrund der Heilmethoden Brehmers Vorbild für das Sanatorium in Davos, bekannt vor allem durch Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, auf den der Roman Tokarczuks in vielerlei Weise rekurriert. Auch der heuer auf Deutsch erschienene Roman „Bitternis“ der polnischen Autorin Joanna Bator nimmt in Görbersdorf, heute Sokolowsko, seinen Ausgang: Ein „lost place“, der zu literarischer „Heimsuchung“ verführt. Regelmäßig verschwinden im November junge Männer, die dann zerstückelt im Wald gefunden werden, und gleich zu Beginn des Romans findet der Protagonist, Mieczyslaw Woynicz, die Frau des Hausherren tot auf dem Tisch im Salon. Zu deren Zimmer fühlt er sich dann auf unerklärliche Weise hingezogen, und er sucht es immer wieder auf. Die unheimlichen Vorgänge und die ebenso geheimnisumwitterte Atmosphäre wird nun allerdings nicht um ihrer selbst willen von der Autorin aufgebaut, vielmehr ist der Roman klug komponiert rund um die ewig verdrängten Themen wie Eros, Tod, Natur und Weiblichkeit. Die Herren, die sich hier zur Kur der Tuberkulose eingefunden haben, versammeln sich regelmäßig zu Gesprächen bei dem einen oder anderen Gläschen „Schwärmerei“ ein Likör, der, wie sich herausstellen wird, aus Magic Mushrooms aus der Umgebung hergestellt wird. Und es entbehrt dabei durchaus nicht der Komik und der Ironie, wenn die schwachbrüstigen, hustenden, sich am Übergang von einem Leben zum anderen befindlichen Herren von jedem Thema, das sie aus den unterschiedlichsten ideengeschichtlichen Perspektiven beleuchten, sei es der Nationalismus, die Frage, ob es Krieg geben wird, usw. immer wieder bei Gesprächen über das „schwache Geschlecht“ landen, als wäre es ein Zwang, über die Weiblichkeit zu sprechen, und hierbei sehr nahe an das, was wir heute als  toxische Männlichkeit bezeichnen, kommen. Sämtliche Aussagen zu Frau und Weiblichkeit weist die Autorin am Ende des Buches allerdings als Originalzitate einer namhaften Reihe von Philosophen, Theologen, Psychologen und Schriftstellern jeglicher Nationalität und Zeit aus. Dass wir diese als lächerlich lesen, ist dem Kontext gedankt, in den Tokarczuk diese Gespräche stellt.

 Der Titel, ein Kunstwort, verweist denn auch auf dieses Grundsetting des Romans. Er setzt sich aus „Empuse“ und „Symposion“ zusammen. Mit Empuse bringt Tokarczuk die weibliche Mythologie ins Spiel, indem sie auf eine weibliche mythologische Spukgestalt verweist, die von der Göttin Hekate, also der Magna Mater, der Göttin der Schwellen und Übergänge, in die Welt geschickt wird, um Angst und Schrecken zu verbreiten. So geistert Empuse auch durch die deutsche Sagenwelt und Literaturgeschichte, u.a. im Faust Teil II, so wie überhaupt das grandiose Finale des Romans an die Walpurgisnacht in Goethes Werk erinnert. Mit dem zweiten Teil: Symposion verweist sie eben auf gemeinsame Trinkgelage unter Männern mit leicht homoerotischem Touch und vor allem mit philosophischen Gesprächen, die einen großen Raum im Roman einnehmen.

Im Mittelpunkt aber steht der junge Mjeczislaw Wojnicz aus Lemberg, auf dessen Familiengeschichte näher eingegangen wird, mit der früh verstorbenen Mutter, der geliebten Amme und dem gestrengen Vater und dem Onkel beim Militär – die möchten, dass aus Mjeczislaw ein strammer gesunder Kerl wird. Er wird als sensibler, feinfühliger Mann geschildert, der weiß, dass er anders ist als die anderen und von klein auf gelernt hat bzw. dem beigebracht wurde, das zu verstecken. Im Sanatorium freundet sich mit dem homosexuellen Thilo von Hahn an, Student der Schönen Künste, der dem Tod bereits sehr nahe steht und ihm, als er stirbt, ein teures, bedeutendes Gemälde vermacht. Mit diesem wird Mieczyzlaw, der im Lauf des Romans zu sich selbst findet, ein neues Leben beginnen können – mehr sei von dem außerordentlich überraschenden Schluss nicht verraten.

Erwähnenswert ist die besondere Perspektive des Romans, denn es sprechen immer wieder raunende Wesen aus der tiefen Wurzel- und Unterwelt, man könnte sagen, es ist die ERDE selbst, es sind die weiblichen Göttinnen, die ein erzählendes WIR bilden, das auftaucht, um dann wieder hinter den Figuren zu verschwinden.

Dieses WIR zeigt einen anderen Weg der Wahrnehmung und des Sehens auf, der auch als Kontraposition zu Thomas Manns „olympischen Blick“ von oben als ganz wörtlich zu verstehender Blick von „unten“, aus der Tiefe der Erde ist. Und das ist es, was auch Mieczyzslaws Freund, Thilo, ausspricht, nämlich, sich einen „anderen Blick anzueignen“, nie dem zu trauen, was man vermeint zu sehen.  Tokarczuk legt dieser Figur in den Mund, wovon meiner Meinung nach auch sie überzeugt ist:

“Aber es gibt noch eine andere Art zu sehen, einen umfassenden, einen totalen, absoluten Blick, ich nenne es das transparente Schauen. Dieser Blick überwindet das Detail und führt zu den Fundamenten einer Ansicht, ihrer grundlegenden Idee, ohne die Einzelheiten, die unseren Blick und Verstand immerzu ablenken. Und wenn man so schauen würde, die Perspektive wechseln würde, dann würde man etwas gänzlich anderes sehen.“

Denn sie führt uns in diesem Roman auf mehreren Ebenen dazu, vieles mit anderem Blick zu sehen: den Protagonisten Wojnicz (so wie er sich selbst anders wahrzunehmen lernt), die Natur und die Art, wie wir sie wahrnehmen, und u.a. auch den Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann.

 Ich finde es wichtig, auf den zeitlichen Kontext der Entstehung dieses hinzuweisen, nämlich zu einer Zeit, als in Polen die Geschlechtergerechtigkeit, die Rechte der Frauen und der LGBTIQ-Personen bedroht waren und beschnitten wurden. Das beweist einmal mehr, dass Tokarczuk eine wichtige Beobachterin der Vorgänge in ihrem Land ist, wie sie überhaupt gegen Intoleranz und Borniertheit auftritt, indem sie in ihren Werken die Vielgestaltigkeit der Welt setzt, von der wir nur ein kleiner Teil sind.

Als Psychologin und Anhängerin der Lehre von C.G. Jung ist sie um eine ganzheitliche Wahrnehmung bemüht, in der jedes Wesen seine männlichen und weiblichen Anteile miteinander aussöhnt und in sich integriert. Auch vor diesem Hintergrund erhellt sich „Empusion“ mit der Darstellung der abgespaltenen und verdrängten Aspekte von Männlichkeit wie Homoerotik und Homosexualität, die sich unter anderem in Misogynie und Unterdrückung der Natur manifestieren und zu Kriegen führen. Und zeigt auf, wie subtil und tiefgreifend zugleich der Bezug zu Thomas Manns „Zauberberg“ ist, nicht nur, was die bereits angedeutete Perspektive betrifft: Hier wie dort ein Wir, das spricht, bei Mann der klassische olympische Erzähler, der aus der allwissenden Sicht „von oben“ sowohl über die Figuren als auch aus ihnen heraus zu erzählen vermag, bei Tokarczuk ein untergründiges, ein geheimnisvolles, über weite Strecken im Verborgenen bleibendes Wir, das „von unten“ beobachtet und erzählt, und das ganz konkret und real, z.B. in der Eingangsszene, wo es über die paar Schuhe, die das „Parkett des Romans betreten, auf den Protagonisten zu sprechen kommt. Vielmehr rekurriert Tokarczuk auch auf wesentliche Motive des „Zauberbergs“, weitet sie aus und wandelt sie um. So wird im „Schneetraum“ von Hans Castorp ein kleiner blonder Junge von zwei widerlichen alten Hexen zerrissen und verschlungen, was als Abwehr der eigenen „abgründigen Natur“ und der männlichen homoerotischen Neigung interpretiert wurde. Die männlichen Wesen, die in Tokarczuks Roman verschwinden, die Thematisierung von Homosexualität und Diversität, die Auseinandersetzung mit sexueller Identität überhaupt –Tokarczuk schafft aus dieser einen Traumsequenz aus Manns Roman das Grundgerüst ihres Romans und spannt daraus einen spannenden narrativen Bogen mit einem sehr überraschenden Schluss, der vielem einen Sinn und eine Logik gibt, so dass man den gesamten Roman noch einmal von vorne lesen möchte.

Und zu guter Letzt findet ein „Rewriting“ auch in Bezug auf das Personal des Romans statt: Emerentia ist in Manns Roman einer Randfigur, nämlich eine ältliche „Zwergin“, die im Restaurant des „Berghof“ bedient und von den Gästen ausgebeutet und als Krüppelin beschumpfen wird. Interessanterweise trägt sie als einzige der Saaltöchter und Kellner im Roman einen Namen. Bei Tokarczuk nun wird aus der Krüppelin die Heilige Emerentia, die mit den beiden Heiligen Anna und Maria sowie mit dem Jesuskind im orthodoxen Kirchlein des Dorf eine Ikone „Selbviert“ bildet. Diese erscheint den betrachtenden Herren als beinahe „unanständige“ bildhafte Darstellung, da die drei Frauen auf dem jeweiligen Schoß der anderen sitzen, die oberste, Maria, mit einem Baby. Nun ist Emerentia hier eben nicht eine Bedienstete, sondern vielmehr, auch das erklärt einer der Herren, Panagia, die Allerheiligste, Urgroßmutter des Erlösers, Mutter der Heiligen Anna, Großmutter von Maria. Das Spannende ist nun neben der Umdeutung und Umwertung der Figur, dass einer der Herren über die weibliche Mythologie genauestens Bescheid weiß, dies ihn aber nicht daran hindert, beim nächsten Gläschen „Schwärmerei“ über die Weiblichkeit en gros und en detail herzuziehen. Oder vielleicht gerade deshalb?

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